Untersuchung polarer Substituenteneffekte in Alkenoxylradikal-Cyclisierungen
- Die vorliegende Arbeit fasst Erkenntnisse zum Einfluss polarer Alken-Substituenten auf Selektivitäten intramolekularer Alkoxylradikal-Additionen zusammen. Ergänzend zu den eigenen mechanistisch-synthetischen Studien flossen in die Bewertung der Reaktionsverläufe thermodynamische Daten und molekularorbital-theoretische Erkenntnisse ein, die in Kooperation mit Jens Hartung aus Dichtefunktional-Rechnungen abgeleitet wurden.
Die existierende Lehrmeinung beschreibt Sauerstoffradikale in Additionen und Substitutionen als Elektrophile, deren Selektivitäten durch sterische Effekte gesteuert werden. Auf Grundlage dieser Einteilung lassen sich atmosphärische und physiologische Sauerstoffradikal-Reaktionen und das komplementäre Reaktionsverhalten zu ionischen Cyclisierungen von Alkenolen deuten.
Vorläufermoleküle, die Sauerstoffradikale in unverzweigten Kettenreaktionen unter pH-neutralen nicht oxidativen Bedingungen freisetzen, erlaubten in der vorliegenden Arbeit strukturell komplexere Sauerstoffradikale mit hoher Spezifität zu erzeugen und aus den isolierten Produkten ein differenzierteres Bild zur Radikalselektivität abzuleiten. In diesem Bild besitzen Sauerstoffradikale Grenzreaktivität. Gegenüber Akzeptor-substituierten Alkenen treten Sauerstoffradikale als Nucleophile und gegenüber Donor-substituierten Alkenen als Elektrophile auf. Elektrophilie bildet darüber hinaus die Grundlage für einen neuen 2,3-cis-dirigierenden Effekt Allyl-ständiger Akzeptor-Gruppen, in denen der polare Einfluss über den sterischen dominiert.
In einem Projekt zur Synthese von Isomuscarinen, die sich durch Positionierung einer endocyclischen Hydroxy-Gruppe von den Glutamat-abgeleiteten Muscarin-Alkaloiden unterscheiden, fiel eine unerwartete 2,3-cis-Selektivität der 5-Hexen-2-oxylradikal-Cyclisierung auf. Aus sterischen Gründen wäre das 2,3-trans-konfigurierte Produkt favorisiert. 2,3-cis-Selektivität, die sich sowohl bei thermisch als auch photochemisch durchgeführten homolytischen Bromcyclisierungen zum Aufbau von Isomuscarin-Gerüsten zeigte, lässt sich in einem der diastereomeren Radikale durch den konformellen Effekt einer Methylgruppe zu 2,3-trans übersteuern. Die Befunde legen nahe, dass die 2,3-cis-Selektivität aus der kinetischen Reaktionskontrolle der Cyclisierungsreaktion resultiert. Kristallographische Untersuchungen der vier racemischen Isomuscarine und umfangreiche NMR-Studien aus denen sogar 1J(14N,13C) offenkund wurden, stützten die stereochemische Analyse zur Radikalselektivität.
Um die Ursache 2,3-cis-selektiver Radikalcyclisierungen einzugrenzen, wurde in einem zweiten Projekt das Untersuchungssystem auf das Allyl-ständig Hydroxy-substituierte 4-Pentenoxylradikal reduziert. Letzteres liefert in Gegenwart von Bromtrichlormethan das 2,3-cis-Cyclisierungsprodukt in einer Selektivität von 74:26. Da das 2,3-cis- und das 2,3-trans-Stereoisomer des (3-Hydroxytetrahydrofuran-2-yl)methyl-Radikals unter den Reaktions-bedingungen nicht ringöffnen, liegt der 2,3-cis-Selektiviät ein kinetischer Einfluss der Allyl-ständigen Hydroxy-Gruppe zugrunde. Auch Acyloxy-Gruppen in allylischer Position ermöglichen 2,3-cis-selektive 4-Pentenoxylradikal-Cyclisierungen, jedoch mit abweichender Selektivität. Den polaren Effekt überlagert demzufolge der sterische des eingesetzten Substituenten.
Das Zusammenspiel zwischen polarem und sterischem Effekt eines Allyl-ständigen Substituenten gelang es in einem dritten Projekt zu separieren. In diesem Projekt variierte der Allyl-ständige Substituent von Hydroxy, Methoxy, Trifluoracetoxy, Chlor, Benzamido, Benzolsulfonamido, N-Phthalimido zu Benzoylsulfanyl. Entlang dieser Reihe fiel der Anteil 2,3-cis-bromcyclisierter Produkte bei thermisch induzierter Umsetzung der synthetisierten Allyl-substituierten 4-Pentenylthiohydroxamate mit Bromtrichlormethan. In einer Korrelationsanalyse folgt der cis-Anteil an 5-exo-trig-Cyclisierungsprodukt der Stabilisierung der HOMO-Energie, wobei 2-substituierte But-3-ene als Modell-Verbindungen zur Korrelation eingesetzt wurden. Mit zunehmendem sterischen Substituenteneinfluss, ausgedrückt anhand des entsprechenden Winstein-Holness-Parameters, steigt der Anteil 2,3-trans-konfigurierter Cyclisierungsprodukte. 2,3-cis-Selektivität resultiert in dem Modell aus einer Verlangsamung der 2,3-trans-Reaktion durch den stabilisierenden Einfluss eines sterisch möglichst kleinen stark elektronenziehenden Substituenten. Mit zunehmender Stabilisierung des Alkenteils sinkt die Geschwindigkeit der Radikaladdition. Mit zunehmender Raumerfüllung des Allyl-Substituenten wird jedoch das Konformer aus dem die 2,3-cis-Reaktion erreicht werden kann zu energiereich, um nennenswert eine Rolle zu spielen.
Direkt an der Doppelbindung gebundene Substituenten haben einen noch deutlicheren Einfluss auf die Radikalselektivitäten, da sie die Energien von π-Typ-Orbitalen direkt beeinflussen. Alkoxylradikale addieren dabei rascher an eine terminal Cyano-substituierte Doppelbindung als an eine unsubstituierte. Kontrollreaktionen mit einer Radikaluhr zeigten, dass alle Intermediate auf Radikale zurückzuführen sind. Anwenden ließ sich die unerwartete nucleophile Reaktivität in der Synthese einer neuen Tetrahydrofuran-abgeleiteten Aminosäure.