Vulnerabilität als Schlüsselkonzept in der raumplanerischen Risikovorsorge

  • Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Risiken und Katastrophen prägt seit jeher die Entwicklung von Städten und Regionen. Vor dem Hintergrund der Klimakrise, der Hochwasserkatastrophen der vergangenen Jahre, der SARS-CoV-2-Pandemie, des Ukrainekriegs und in dessen Folge der Energiekrise gewinnt der Umgang mit Risiken in der Raumentwicklung zunehmend an Bedeutung. Für die Raumplanung spielt dabei die Einbettung einer räumlichen Risikovorsorge in die Planungspraxis eine zentrale Rolle. Der Grundannahme folgend, dass sich das Risiko über eine „externe“ Komponente – die Gefahr – und eine „interne“ Komponente – die Vulnerabilität – konstituiert, greift hierbei eine Fokussierung auf Gefahren und Stressoren sowie deren räumlichen Auswirkungen zu kurz. Vielmehr zeigt sich, dass die Vulnerabilitäten von Menschen, Bevölkerungsgruppen oder sozialen Systemen, deren aktuelle Ausprägungen wie zukünftige Entwicklungen maßgeblich die Art und Intensität raumrelevanter Risiken bestimmen. Hier setzt die vorliegende Forschungsarbeit mit der Ausgangshypothese an, dass sich das Vulnerabilitätskonzept gewinnbringend für die räumliche Planung, insbesondere im Zusammenhang mit der räumlichen Risikovorsorge, operationalisieren lässt. Dazu ist jedoch eine konzeptionelle Adaption an die Erfordernisse der räumlichen Planung notwendig. Bei der vorliegenden Arbeit steht das Schutzgut „Mensch und menschliche Gesundheit“ im Fokus, welches nicht nur im Zusammenhang mit der räumlichen Risikovorsorge besondere Relevanz entfaltet, sondern zugleich vielfältige Bezüge zu weiteren aktuellen Diskursen in der Raumplanung aufweist, wie beispielsweise zu den Themen Resilienz, Umweltgerechtigkeit und gesunde Stadt. Als räumliche Ebene wird die Stadt gewählt; hier kumulieren Risiken („sites of disaster“) und somit auch Vulnerabilitäten. In Bezug auf die Gefahrenarten liegt der Schwerpunkt auf Hitzestress und Überflutungen. In Teil 1 der Arbeit werden aktuelle Diskurse zu Klimawandelfolgen, zur Hochwasservorsorge und zu raumrelevanten Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie aufgegriffen; es wird die Relevanz von Vulnerabilität in diesen Kontexten aufgezeigt und schließlich der Stand der räumlichen Risikovorsorge in der Planungspraxis beleuchtet. Teil 2 widmet sich unterschiedlichen konzeptionellen Zugängen zu Vulnerabilität in verschiedenen Forschungsgebieten sowie deren Genese, Differenzen und Gemeinsamkeiten. Es geht darum, deren Verwertbarkeit für die räumliche Planung zu prüfen. Jahrzehnte an Forschung haben hier nicht zu einem Konsens, sondern vielmehr zu einer unübersehbaren Vielzahl an Begriffsdefinitionen und Konzeptualisierungen geführt. Zudem erweist sich die Operationalisierung von Vulnerabilität als komplexes Unterfangen. Die unterschiedlichen methodischen Ansätze besitzen jeweils Vor- und Nachteile. Da Analyse und Bewertung der Strukturierung planerischer Fragestellungen und der Vorbereitung politischer Entscheidungen dienen, liegt hier ein besonderes Augenmerk auf Methoden und Verfahren, um die räumliche Repräsentation von Vulnerabilitäten im Rahmen von Planverfahren abzubilden. Aus Recherche, Auswertung und Systematisierung der verschiedenen Konzepte und Operationalisierungsansätze konnten grundlegende Prinzipien und Kernkomponenten von Vulnerabilität abgeleitet werden – als Basis für eine konzeptionelle Adaption im Rahmen der Raumplanung. Diese erfolgt in Teil 3 der Arbeit. Zunächst werden die zentralen Begriffe kurz eingeordnet, dabei stehen die räumliche Dimension und die Perspektive der Raumplanung im Vordergrund. Das so umrissene Grundverständnis legt die Bezüge zwischen Vulnerabilität, Gefahr, Exposition und Risiko sowie Anpassung und Resilienz offen. Das für die räumliche Planung entwickelte Vulnerabilitätskonzept liefert das konzeptionelle Grundgerüst und damit einen methodisch konsistenten Rahmen, um Vulnerabilität in die Logik der Raumplanung einzupassen und somit für die Planungspraxis nutzbar zu machen. Es stellt ein Kernergebnis der vorliegenden Arbeit dar. Die Kopplung mit den Verfahren der räumlichen Planung erfolgt über einen prozessualen und mehrstufigen Ansatz: Die drei Stufen – Vulnerabilitätsscreening, Referenzverfahren und Vulnerabilitätsszenarien – knüpfen an etablierte Vorgehensweisen an und entsprechen den unterschiedlichen Bedarfen der räumlichen Planung, nicht zuletzt in Bezug auf Rechtssicherheit im Kontext der planerischen Vorsorge und Abwägung. Planungsprozesse erfordern zumeist ein enges Wechselspiel aus analytischen, normativen und partizipativen Elementen. Dem trägt ein adaptiver und mehrstufiger Verfahrensansatz Rechnung. Hierüber kann auch der Zeitspezifität von Vulnerabilitäten und Risiken entsprochen werden. Die Anschlussfähigkeit des Vulnerabilitätskonzepts an die Instrumente, Verfahren und Diskurse der Raum- und Stadtplanung wird ausgelotet, Schnittstellen und Mehrwert werden aufgezeigt. Die analytisch-empirische Modellierung von (sozialer) Vulnerabilität erfolgt stets kontextspezifisch und damit maßgeschneidert für den spezifischen Anwendungsfall. In Teil 4 wird der analytische Ansatz des Vulnerabilitätskonzepts für zwei Gefahrenbereiche – (1) Hitzestress im Außen- und im Innenraum sowie (2) Hochwasser- und Starkregengefährdung – im Rahmen eines Fallstudien- designs demonstriert. Dazu bedarf es zunächst einer Konstruktion der relevanten Wirkungszusammenhänge zur Ableitung von Indikatorensets, die als Grundlage für die Analyse und Darstellung der räumlichen Repräsentation von Vulnerabilitäten dienen. Die Wirkungszusammenhänge und Indikatorensets stellen den Ausgangspunkt für die empirischen Arbeiten dar: Darauf aufbauend wird am Beispiel der Stadt Saarbrücken ein Vulnerabilitätsprofil für die Wohnbevölkerung GIS-gestützt für die Ebene der Siedlungsstrukturtypen ausgearbeitet. Für die Gefahrenbereiche zeigt sich für die thermische Belastung eine hohe Varianz beim Vergleich von Innen- und Außenraumbelastung; bei der gemeinsamen Betrachtung der Hochwasser- und Starkregengefährdung erweitern sich die Expositionslagen in erheblichem Umfang. In der Verknüpfung von Gefährdung und Vulnerabilität werden raumrelevante Risikosituationen kleinräumig dargestellt, über aggregierte Risikokarten lassen sich Risiko-Hotspots und multiple Risikolagen identifizieren. Durch eine systematische Einbindung der Ergebnisse von Vulnerabilitätsanalysen in Planungs- und Beteiligungsprozesse wird es möglich, evidenzbasierte und zielgerichtete Strategien zu entwickeln, die sowohl die Bedarfe spezifischer vulnerabler Bevölkerungsgruppen berücksichtigen als auch grundsätzlich die Resilienz und Nachhaltigkeit städtischer Systeme stärken. Städtische Vulnerabilitätsprofile können dabei helfen, mit den Interventionsmöglichkeiten der räumlichen Planung sowohl bestehende (Multi-)Risiken als auch – unabhängig von aktuellen Gefährdungslagen – bestehende Vulnerabilitäten zu reduzieren. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen, dass gesamtstädtische, auf Kernindikatoren bezogene Vulnerabilitätsprofile und gefahrenbezogene Risikoprofile relevante Grundlagen für eine risikoinformierte Stadtplanung liefern. Die Ergebnisse sind anschlussfähig an die Instrumente der Stadtplanung und Stadtentwicklung wie auch an den (planungs-)politischen Diskurs zu einer effektiven räumlichen Risikovorsorge auf gesamtstädtischer Ebene. Weitere Forschung sollte darauf abzielen, neben theoretisch-konzeptionellen Fragestellungen gezielt die praktische Umsetzbarkeit des Vulnerabilitätskonzepts zu vertiefen und Methoden zur Erfassung und Analyse von (zukünftigen) Vulnerabilitäten zu optimieren – unter anderem durch die Nutzung künstlicher Intelligenz zur Datenverarbeitung. Die Ergebnisse können maßgeblich zu einer verbesserten Risikovorsorge und -bewältigung in urbanen Räumen beitragen.
Metadaten
Author:Andrea Maria Hartz
URN:urn:nbn:de:hbz:386-kluedo-83860
DOI:https://doi.org/10.26204/KLUEDO/8386
Advisor:Annette Spellerberg, Jörn Birkmann
Document Type:Doctoral Thesis
Cumulative document:No
Language of publication:German
Date of Publication (online):2024/09/11
Date of first Publication:2024/09/11
Publishing Institution:Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Granting Institution:Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Acceptance Date of the Thesis:2024/09/11
Date of the Publication (Server):2024/09/13
Tag:Hochwassergefahren; Mensch; raumplanerische Risikovorsorge; risikoinformierte Stadtplanung; thermische Innenraumbelastung
GND Keyword:Vulnerabilität; Risikovorsorge; Klimawandel; Stadtplanung; Menschliche Gesundheit; Hitzestress; Hochwasserrisiko; Starkregengefährdung
Page Number:335
Faculties / Organisational entities:Kaiserslautern - Fachbereich Raum- und Umweltplanung
DDC-Cassification:7 Künste und Unterhaltung, Architektur, Raumplanung / 710 Landschaftsgestaltung, Raumplanung
Licence (German):Creative Commons 4.0 - Namensnennung, nicht kommerziell, keine Bearbeitung (CC BY-NC-ND 4.0)