Experimentelle Charakterisierung und kontinuumsmechanische Simulation des Versagensverhaltens strukturell vernähter Faser-Kunststoff-Verbunde
- Das Vernähen von trockenen Faserhalbzeugen im Vorfeld der Harzinjektion bietet
vielfältige Möglichkeiten, um gewichts- und kostenoptimierte Faser-Kunststoff-Verbund-
Bauteile komplexer Geometrie herzustellen. Zur Stabilisierung der Faseranordnung,
insbesondere aber zur Erhöhung der Impaktbeständigkeit und Schadenstoleranz
derartiger Strukturen können flächige Halbzeuge durch strukturelles Vernähen
verstärkt werden, wodurch die Aufnahme komplexer dreidimensionaler Belastungen
ermöglicht wird. Allerdings kann Vernähen in Laminatdickenrichtung die mechanischen
Scheibeneigenschaften des Verbunds in der Laminatebene auch reduzieren,
was auf Fehlstellen (Reinharzgebiete) und Faserondulationen, verursacht durch das
Nähgarn, zurückzuführen ist.
Im Rahmen dieser Arbeit wurden daher, aufbauend auf Ergebnissen scheibenzugund
-druckbelasteter Faser-Kunststoff-Verbunde, kohlenstofffaserverstärkte Multiaxialgelege-(
MAG-)Laminate strukturell vernäht und eine breit angelegte experimentelle
Parameterstudie zum Einfluss unterschiedlicher Nähkonfigurationen auf Scheiben-
Schubmodul und -festigkeit sowie zusätzlich auf die Restdruckfestigkeit nach Impaktbelastung
(CAI-Festigkeit) und die scheinbare interlaminare Energiefreisetzungsrate
G1R unter Mode-1-Belastung durchgeführt. Neben Stichrichtung, Garnfeinheit,
Teilung (Abstand zwischen zwei parallelen Nähten) und Stichlänge wurde die Belastungsrichtung
(Rissfortschrittsrichtung im Falle von G1R) als Parameter definiert, systematisch
variiert und hinsichtlich ihrer statistischen Signifikanz auf das experimentelle
Ergebnis untersucht. In der Mehrzahl der Fälle wurden der Schubmodul und die
Schubfestigkeit im Vergleich zum unvernähten Laminat um bis zu 22 % reduziert. Bei
einigen Nähkonfigurationen ließen sich aber auch keine Änderung oder sogar eine
geringfügige Steigerung des Schubmoduls im Vergleich zum unvernähten Laminat
feststellen. Demgegenüber konnten die CAI-Festigkeit und G1R durch strukturelles
Vernähen maximal um 48 % bzw. um den Faktor 5 erhöht werden. Während die
Scheibenschubeigenschaften und G1R dominierend von der Garnfeinheit beeinflusst
werden, wird die CAI-Festigkeit vorwiegend durch die Wahl der Stichdichte bestimmt,
wobei der Einfluss von Garnfeinheit und Stichdichte auf die untersuchten Kennwerte
gegenläufig ausgeprägt ist. Ein Anstieg dieser Parameter führt zu Absenkungen der
Scheibeneigenschaften, gleichzeitig aber auch zu Steigerungen von CAI-Festigkeit und G1R. Allerdings kann durch die Wahl geeigneter Nähkonfigurationen ein Kompromiss
zwischen beiden Effekten gefunden werden.
Die Realisierung der Nähtechnik im Industriemaßstab kann allerdings nur dann erfolgen,
wenn Werkstoffeigenschaften günstig und schnell, d. h. mit minimalem experimentellen
Aufwand, abgeschätzt werden können. Zur Simulation des Festigkeitsverhaltens
in der Laminatebene, das in der Strukturauslegung neben dem elastischen
Verhalten häufig maßgeblich ist, wurde daher, aufbauend auf einem parametrisch
gesteuerten Finite-Elemente-Einheitszellenmodell, ein Modul zur kontinuumsmechanischen
Versagensanalyse (Spannungs-, Verzerrungs-, Festigkeits- und Degradationsanalyse)
entwickelt. In Abhängigkeit der jeweiligen Parametereinstellung können
komplexe Einheitszellen mit Fehlstellen und Faserondulationsgebieten modelliert
werden. Die iterative, einzelschichtbasierte Versagensanalyse ermöglicht die Abschätzung
von Festigkeitskennwerten unvernähter und strukturell vernähter MAG-Laminate
unter Scheibenbelastung (Zug, Druck und Schub). Zur Bewertung der Werkstoffanstrengung
für Faserbruch wurde das Maximalspannungs-Kriterium, für
Zwischenfaserbruch das Wirkebenenkriterium von Puck für den dreidimensionalen
Spannungszustand implementiert. Das Nachversagensverhalten wird kontinuumsmechanisch
durch Steifigkeitsdegradation nach einem für den dreidimensionalen
Spannungszustand modifizierten Chiu-Modell abgebildet. Die nichtlineare Versagensanalyse
erlaubt die Berechnung des Schädigungsverhaltens infolge von Zwischenfaserbruch,
die Vorhersage des Totalversagens und des ebenen Spannungs-
Dehnungs-Verhaltens sowie die Berücksichtigung thermisch bedingter Eigenspannungen
und werkstofflicher Nichtlinearitäten.
Alternativ zur Einheitszellenmodellierung wurde für den Konstrukteur in der Vorauslegung
oder den Anwender in der Verarbeitungstechnik die Möglichkeit geschaffen,
Scheibeneigenschaften strukturell verstärkter Laminate mit nahezu beliebigem
Schichtaufbau und Nähmuster durch die Verwendung von Kennwerten vernähter,
unidirektionaler MAG-Einzelschichten in Verbindung mit analytischen Laminatanalyseprogrammen
konservativ abzuschätzen. Zur Vorhersage mit verbesserter Genauigkeit
sollte allerdings auf das Finite-Elemente-Einheitszellenmodell zurückgegriffen
werden.